Hungerstreik der letzten Generation

Vor 32 Jah­ren war ich zu einem Kon­zert der Punk-Grup­pe „Die Ande­ren“. Das Kon­zert fand am letz­ten Feri­en­tag statt und der Sän­ger Tos­ter begrüß­te uns mit „Schön, dass Ihr alle da seid.“ Ein Moment, den kei­ne und kei­ner der Anwe­sen­den jemals ver­ges­sen wird, denn es war nicht selbst­ver­ständ­lich, dass wir da waren. Vie­le waren aus den Feri­en in Ungarn oder der Tsche­cho­slo­wa­kei nicht zurück­ge­kehrt. Men­schen ver­lie­ßen in Mas­sen das Land. In der Sowjet­uni­on gab es Glas­nost und Pere­stro­j­ka, aber Hon­ecker fand, nur weil der Nach­bar sei­ne Woh­nung reno­viert, müs­se man ihm das ja nicht nach­ma­chen. (Die heu­ti­ge Ver­si­on davon ist: „Nur weil jetzt so ein Tag ist, ändert man doch nicht sei­ne Politik.“)

Am 7.5. gab es in der DDR Kom­mu­nal­wah­len (sie­he Wiki­pe­dia-Arti­kel zu Kom­mu­nal­wah­len 1989) und vie­le hat­ten die Hoff­nung, dass die Staats­füh­rung das Ergeb­nis ehr­lich ver­kün­den wür­de. Das wären dann demo­kra­ti­sche Wah­len gewe­sen, sie hät­ten die Mehr­heit gehabt und hät­ten Ver­än­de­run­gen auf den Weg brin­gen kön­nen. Die Kir­che und ent­spre­chen­de Unter­grund­grup­pen haben eine loka­le Aus­zäh­lung der Ergeb­nis­se orga­ni­siert. Das war laut Wahl­ge­setz mög­lich. Für Ber­lin hat das fast flä­chen­de­ckend geklappt. Die aus­ge­zähl­ten Stim­men wur­den an die Bezir­ke gemel­det und dann auf die­ser Ebe­ne mani­pu­liert. Ergeb­nis: 98,85% für die Kandidat*innen der Natio­na­len Front (SED + Block­par­tei­en). Ab April gab es jeden 7. des Monats eine Demo auf dem Alex­an­der­platz. Die­se wur­den von Mal zu Mal größer. 

Die Situa­ti­on spitz­te sich zum 7.10. hin zu. Das war der 40. Jah­res­tag der Grün­dung der DDR und die Staats­füh­rung plan­te gro­ße Fei­ern. Anfang Okto­ber gab es Pro­tes­te und Demons­tra­tio­nen über­all im Land. Die Kri­se war nicht mehr zu über­se­hen, es muss­te sich etwas ändern. In der Geth­se­ma­n­e­kir­che waren Oppo­si­tio­nel­le in den Hun­ger­streik getre­ten. An die­sen Hun­ger­streik muss­te ich den­ken, als ich ges­tern vom „Hun­ger­streik der letz­ten Gene­ra­ti­on“ gele­sen habe (taz, 01.09.2021).

Hun­ger­streik der letz­ten Gene­ra­ti­on vor dem Reichs­tag: Fünf der sie­ben Hun­gern­den bei der täg­li­chen Mahn­wa­che, Ber­lin, 02.09.2021 CC-BY: Ste­fan Müller

Wir haben eine ähn­li­che Situa­ti­on: eine nicht zu über­se­hen­de Kri­se und eine nicht ange­mes­sen reagie­ren­de Regie­rung. Der Unter­schied ist: Wir kön­nen das Land nicht ver­las­sen. Das wür­de nichts ändern, denn alle Län­der, in die wir flie­hen könn­ten, sind genau­so von der Kri­se betrof­fen. Wir haben die Kri­se selbst ver­ur­sacht. Wir haben sogar dafür gesorgt, dass es vie­len noch viel schlech­ter gehen wird als uns. Gro­ße Tei­le der Erde wer­den unbe­wohn­bar sein und Men­schen wer­den ihre Hei­mat ver­las­sen müs­sen oder sterben.

Sie­ben Men­schen sind jetzt in den Hun­ger­streik getre­ten. Sie for­dern aus­führ­li­che Gesprä­che mit den Kanzlerkandidat*innen und die Ein­rich­tung eines reprä­sen­ta­tiv gelos­ten Bürger*innenrates, der die Regie­rung ver­pflich­ten­de Vor­schlä­ge zu Kli­ma­fra­gen macht. Die­se Men­schen ris­kie­ren ihre Gesund­heit und ihr Leben. Ich wün­sche ihnen sehr, dass ihre For­de­run­gen erfüllt wer­den. Ich wün­sche uns das. Ich sehe die Bürger*innenräte als ein­zi­gen Weg, geord­net ohne gro­ße gesell­schaft­li­che Ver­wer­fun­gen die Kli­ma­kri­se abzu­mil­dern und viel­leicht auch irgend­wann zu meistern.

Bürger*innenräte

Ein Punkt noch zu Bürger*innenräten: Mei­ner Mei­nung nach sind sie der ein­zi­ge Weg, wie wir die anste­hen­den Auf­ga­ben für eine sozi­al­ver­träg­li­che kli­ma­kom­pa­ti­ble Umge­stal­tung schaf­fen kön­nen. Kli­ma­schutz­maß­nah­men sind kom­pli­ziert und wie wir gese­hen haben, waren Uni­on und SPD nicht in der Lage, sie im not­wen­di­gen Umfang auf den Weg zu brin­gen. Auch die Plä­ne der Grü­nen sind nicht aus­rei­chend. Die gefor­der­ten Bürger*innenräte wür­den die sozia­len Ver­hält­nis­se in der Bevöl­ke­rung abbil­den. Etwa 100 zufäl­lig gelos­te Men­schen wür­den sich mehr­fach tref­fen und mit Input von Expert*innen aus allen rele­van­ten Gebie­ten fak­ten­ba­siert ent­schei­den. Es gab bereits meh­re­re sol­che Klimabürger*innenräte in ande­ren Län­dern und die Regie­run­gen haben auch Emp­feh­lun­gen die­ser Räte übernommen.

Dass es sich bei den Bürger*innenräten nicht um ein Hirn­ge­spinst irgend­wel­cher durch­ge­knall­ten Revo­lu­tio­nä­re han­delt, kann man sehen, wenn man sich anschaut, wer die­se Idee unter­stützt: Bun­des­tags­prä­si­dent Wolf­gang Schäu­be­le (CDU), Ex-Bun­des­prä­si­dent Horst Köh­ler (CDU).

Ich habe aus­führ­li­cher im Blog-Bei­trag Wis­sen & Tun über Bürger*innenräte geschrie­ben. Dort sind auch ent­spre­chen­de Vide­os verlinkt. 

Quellen

Pös­ser, Clau­di­us. 2021. Kli­ma­pro­test vor dem Reichs­tag: Hun­gern gegen die Kata­stro­phe. taz. Ber­lin. (https://taz.de/Klimaprotest-vor-dem-Reichstag/!5792916)

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