Widerruf
Der hier veröffentlichte Aufsatz wurde nach einem Peer-Review-Verfahren bei Amigo-Press veröffentlicht. Trotz zweier Experimente und entsprechend abgesicherter Vorhersagen, wichen diese um den Faktor 12,6 vom letztendlichen Ergebnis ab (1,7% statt 21,35%). Ich bin also nicht in den Bundestag eingezogen und die Aussichten, Bundeskanzler zu werden, sind gering.
Bisher ist es niemandem gelungen, den Fehler in meinem Aufsatz zu finden, aber da das tatsächliche Ergebnis vom vorhergesagten so stark abweicht, muss es wohl einen geben. In der Pandemie haben wir gelernt, dass man auch als Wissenschaftler*in seine Aussagen nicht korrigiert (Hendrik Streeck: Von Einsicht keine Spur, riffreporter, 09.02.2021). Der Faktenfuchs des Bayrischen Rundfunks beschreibt, wie schwierig es sein kann, wenn man seine Aussage revidieren muss:
Obwohl die Wissenschaft mittlerweile zeigen konnte, dass Hydroxychloroquin doch nicht das Wundermittel gegen Covid-19 ist, wie Didier Raoult angekündigt hat, gibt es immer noch viele Menschen, die ihm glauben. Raoult selbst hat seine Studie nie zurückgezogen oder eingestanden, dass Hydroxychloroquin doch nicht wirksam ist. Eine einmal formulierte Haltung aufzugeben fällt keinem leicht, sagt die Philosophin Ophélia Deroy: “Eine 180-Grad-Drehung kann einen vieles kosten, vor allem, wenn man eine Person der Öffentlichkeit ist. Je nachdem, wie sehr sich das eigene Ansehen oder der Status verbessert hat mit dieser Aussage, desto schwieriger ist es, sich davon loszusagen.”
#Faktenfuchs — Was macht einen Experten zu einem Experten? 21.11.2021
Im vorliegenden Fall ist die Fallhöhe natürlich enorm: vom in Herzogenaurach gefeierten Kanzlerkandidaten zurück zum absolut unbekannten Germanisten an der Humboldt-Universität. Immerhin ist das mein erster ernsthafter Rückruf eines Zeitschriftenartikels und erst das zweite Mal, dass ich Unsinn geschrieben habe. Das erste Mal war das Kapitel über Partikelverben in meiner Dissertation, aber aus dem Versuch, es in einer Zeitschrift zu veröffentlichen ist dann immerhin meine Habilitation geworden.
Ich habe mich entschlossen, den Artikel dennoch im Netz zu lassen. Vielleicht findet jemand den Fehler ja noch und der Artikel kann dann für die Ausbildung zukünftiger Wissenschaftler*innen nützlich sein.
PS: Blöd, dass ich den Artikel auch noch an die DFG geschickt habe. (Das ist kein Quatsch.)
Ausgangslage
Stefan Müller von der CSU gewinnt seit 2002 das Direktmandat im Bundestagswahlkreis Erlangen (Wahlkreis 242). Die Ergebnisse kann man im Wikipedia-Eintrag für den Wahlkreis nachlesen. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse von Stefan Müller.
Wie man Tabelle 1 entnehmen kann, bekommt Stefan Müller immer fast 50% der Stimmen. 2017 gingen 7,9% der Erststimmen an die AfD. Die fehlten dann bei Stefan Müller, was den Abfall von 2013 zu 2017 erklären dürfte (2013 hatte der AfD-Direktkandidat nur 3,3% der Stimmen).
2017 war die Zweitplatzierte die Kandidatin der SPD und sie hatte 21% der Stimmen.
Ansatz
Da es – wie Die PARTEI Erlangen festgestellt hat – keinerlei nachvollziehbare Gründe für die Wahl von Stefan Müller gibt, könnte auch genauso gut irgendein anderer Stefan Müller (oder eine Stefanie Müller) die Wahl gewinnen.1 Da es durchaus gute Gründe dafür gibt, gegen Stefan Müller zu sein (zum Beispiel seine hufeisenartige Gleichsetzung von den Reichstag stürmenden Nazi-Schwurblern mit Klimademonstrant*innen), hat Die PARTEI Erlangen beschlossen, eine eigene Direktkandidat*in aufzustellen und hat zu diesem Zweck ein StefanX-Müller-Casting durchgeführt (Pressemitteilung) und in einem langwierigen komplizierten mehrstufigen Verfahren wurde ich unter Tausenden StefanX Müllers ausgewählt (Pressemitteilung). Da Die PARTEI selbst 2017 nur 0,8% der Erststimmen erhalten hat und auch die derzeitigen Prognosen nur bei 8,1% liegen, stellt sich natürlich die Frage, ob eine Direktkandiadatur überhaupt aussichtsreich ist. Im Folgenden möchte ich darlegen, wie ich die Mehrheit im Wahlkreis erringen werde.
Ich bin seit 1994 in der akademischen Lehre tätig. Seitdem ich regelmäßig Lehrevaluationen durchführe, haben mir Student*innen immer wieder bestätigt, dass ich abschweife (zur Datengrundlage siehe Anhang A). Mein Ziel war und ist es natürlich immer, alle Aspekte eines Themas umfassend auszuleuchten,2 3 aber das verwirrt die Zuhörer*innen mitunter. Im Fall meiner Bundestagskandidatur wird mir die Fähigkeit, totale Verwirrung zu stiften, ausnahmsweise einmal von Nutzen sein. Ich werde die Erlanger*innen einfach so durcheinanderbringen, dass sie letztendlich bei irgendeinem der Stefan Müllers ihr Kreuz machen. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie mich wählen, liegt also bei 50%. Erste Experimente mit Umfragen auf Twitter scheinen diesen vorerst rein theoretischen Wert zu bestätigen (siehe Abbildung 1).
Damit würde ich 21,3% der Stimmen bekommen und klar vor der SPD-Kandidatin liegen. Die PARTEI hatte 2017 keine Direktkandidat*in, aber 0,8% der Zweitstimmen. Auch wenn sich die derzeitigen Prognosen von 8,0% als zu optimistisch herausstellen sollten, kann man wohl sicher mit 0,8% der Stimmen rechnen. Mitglieder der PARTEI sind SEHR GUT, sie werden vorher informiert, dass sie den Stefan Müller mit den Titeln wählen sollen, so dass ich dann 0,8% vor dem unbetitelten Stefan Müller liegen werde.
Zusammenfassung
In diesem Aufsatz habe ich unter Bezugnahme auf Daten aus einer 24jährigen Längsschnittstudie einen Weg aufgezeigt, wie man durch totale Verwirrung Wahlen gewinnen kann. Erste Experimente scheinen die theoretischen Abschätzungen zu bestätigen.
Danksagung
Ich danke zwei anonymen Gutachter*innen für wertvolle Kommentare zu früheren Versionen dieses Aufsatzes. Klaus Amigo, dem Herausgeber der Zeitschrift Demokratie und Krise, möchte ich dafür danken, dass er mir gestattet hat, den Anhang C mitzuveröffentlichen, obwohl beide Gutachter*innen angemerkt haben, dass er für die eigentliches Aussage des Aufsatzes irrelevant sei. Tausenden Student*innen danke ich dafür, in den letzten Jahrzehnten in der Studie mitgewirkt zu haben und dem Universitätsprojekt Lehrevaluation (ULe) danke ich für die Auswertung meiner Fragebögen auch nach meiner Zeit in Jena. Nur so waren die Ergebnisse vergleichbar und für meine Studie verwertbar. Der Aufsatz ist im Rahmen des Projekts Direkte Demokratie entstanden (FKZ HUF-SUC-1343). Ich danke Klaus Huber von Bayern-Press für seine sorgfältige Betreuung im Publikationsprozess. Mir ist bewusst, dass das heutzutage alles andere als üblich ist, und ich weiß die gute Betreuung sehr zu schätzen. Seiner Bitte, auf Fußnoten zu verzichten, konnte ich leider nicht entsprechen.
Anhang A: Materialien aus der Längschnittstudie
- 1998 Uni Saarbrücken: HPSG für das Deutsche: „Dozent schweift ab.“
- 2003 Uni Bremen: Logik für Linguisten: „solange Eingehen auf eine Frage, bis die ursprüngliche Frage vergessen worden ist“
- 2005 Uni Potsdam: Logik für (Patho-)Linguistinnen: „nicht vom Thema abkommen“
- 2005 Uni Potsdam: HPSG für da Deutsche: „Fragen werden teilweise ausführlicher beantwortet, als es sein müsste.“ „kleine Zwischenfragen kürzer beantworten (z.B. ”Ja”)“
- 2006 Uni Bremen: Mathematisch-Logische Grundlagen der Sprachwissenschaft: „nicht zu langes Aufhalten an kleineren Themen“
- 2007 FU Berlin: Morphologische und syntaktische Strukturen: „zu abschweifend, beim Thema bleiben“
- 2009 FU Berlin: Einführung in die Sprachbeschreibung: „direkte Antworten auf Fragen ohne abzuschweifen“
- 2010 FU Berlin: Satzsemantik: „ausführlichere Erklärungen“
- 2012 FU Berlin: Einführung in die Sprachbeschreibung: „weniger abschweifende Erzählungen über Forschung(sgeschichte)“
- 2014 FU Berlin: Struktur germanischer Sprachen: „zu viele Abschweifungen über andere Theorien, die uns manchmal verwirren“
- 2015 FU Berlin: „oft vom Thema abgewichen“
- 2016 HU Berlin: Grundkurs Linguistik: „überflüssig komplexe Sachverhalte erklärt zu bekommen, welche wir anschließend komplett verwerfen“
- 2017 HU Berlin: Vorlesung Syntax „teilweise näher am Thema bleiben (roter Faden ging verloren)“
- 2017 HU Berlin: HPSG „Dozierender schweift zu sehr ab (2 mal)“
- 2018 HU Grammatiktheorie: „Es ist zwar gut, mehr Informationen über Nebenaspekte zu bekommen, aber manchmal verliert man so den Faden.“
- 2019 HU Berlin: Grundkurs Linguistik: „bitte mehr darauf achten erst eine solide Basis zu schaffen, statt mit Ausschweifungen zu verwirren“
- 2020 HU Berlin: Syntax: „roten Faden deutlicher machen”
- 2021 HU Berlin: Syntax: „Manchmal waren die Erklärungen etwas gar ausschweifend und schlussendlich wusste man gar nicht mehr, was gefragt wurde oder was eigentlich jetzt die Antwort war…“
Anhang B: Nicht berücksichtigte Materialien
Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, habe ich nur die von der Uni Jena ausgewerteten Fragebögen berücksichtigt. Ich musste einmal Fragebögen einer anderen Uni verwenden, weil der Fachbereich plötzlich auf die Idee kam, an unserem Institut eine Pilotstudie durchzuführen. Zur Erleichterung vieler Kolleg*innen gab es nur einmal solch eine zentral ausgewertete Lehrevaluation.4
Anhang C
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Ausführliches Eingehen auf Fragen wurde immer gelobt und ich wurde in allen Evaluationen als kompetent, wissenschaftsbegeistert, humorvoll, gutmütig und freundlich bezeichnet.
Also naja. Bis auf die eine. Aber da wollte ich irgendwie erzwingen, dass die Deutschlehrer*innen an einer Vorlesung teilnehmen, zu der sie sich normalerweise nur einschreiben und dann nicht hingehen. Sorry, ich bin schon wieder abgeschwoffen.
Literatur
Bortz, Jürgen & Christof Schuster. 2010. Statistik für Human und Sozialwissenschaftler. 7th edn. Berlin: Springer Verlag. DOI: 10.1007/978–3‑642–12770‑0.
Huff, Darrell. 1954. How to lie with statistics. New York, NY: Norton.
Munroe, Randall. 2019. How to win an election. How to: Absurd scientific advice for common real-world problems. Kapitel 24. London: John Murray.
Die PARTEI Erlangen. 2021. Pressemiteilung: Stefan Müller Casting. (https://dieparteierlangen.wordpress.com/2021/01/11/stefan-muller-casting/) (letzter Zugriff 14.04.2021)
Die PARTEI Erlangen. 2021. Pressemiteilung: Stefan Müller kandidiert für Die PARTEI für den Bundestag. (https://dieparteierlangen.wordpress.com/2021/03/08/stefan-muller-kandidiert-fur-die-partei-fur-den-bundestag/) (letzter Zugriff 14.04.2021)